Wird die Entscheidung positiv sein, dann werden die Beziehungen zwischen Kiew und Brüssel auf eine prinzipiell neue Stufe hinaufgehen. Wir werden nicht einfach Nachbarn der zivilisierten Welt sein, die, wie John Lennon sang, «einen Traum haben». Anstatt dessen werden wir eine klare Perspektive erhalten, ein Teil dieser Welt zu werden. 

Die Geschichte der Eurointegrationsbewegung in der Ukraine ist dramatisch, und die Wendepunkte in der neuesten Geschichte unseres Staates sind untrennbar mit dem Kampf des Volkes für eine europäische Zukunft verbunden. Es sei wenigstens an die Revolution der Würde erinnert, die aufgrund der Weigerung von Viktor Janukowitsch begonnen hatte, bei einem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius ein EU-Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Natürlich wurden die Ansprüche an die Machtbehörden 2013 vom Streben einer Mehrheit der Gesellschaft, ein Teil der Europäischen Union zu werden,  nicht ausgeschöpft, aber eine kardinale Änderung des außenpolitischen Kurses rief in der Gesellschaft eine solche Empörungswelle hervor, dass zuerst die Ereignisse im Stadtzentrum Euromaidan genannt wurden. Nach 2014 billigten die Ukraine und die Europäische Union das Assoziierungsabkommen und beeilten sich mit den nächsten Schritten nicht. Brüssel und Kiew bekamen zu viele neue Herausforderungen. Die EU überlebte Migrationskrise, Brexit, Corona-Pandemie. Die Ukraine stieß auf die Krim-Annexion, ein Krieg gegen Russland begann, parallel stellten sich die  Kiewer Behörden vor die Notwendigkeit komplizierter wirtschaftlicher und politischer Reformen. Vor diesem Hintergrund war die Mitgliedschaft in der Europäischen Union immer seltener im Gespräch. Die Situation hat der Februar 2022 geändert. Der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselte, stellte erneut prompt die Frage darüber, zu welchem Bündnis eigentlich die Ukraine gehört? Wo ist ihre Zukunft? Eine Antwort war offensichtlich. Am 28. Februar unterschrieben Präsident Volodymyr Zelenskyy, Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk und Premierminister Denys Schmyhal einen gemeinsamen Antrag auf die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union. Am 1. März bestätigte das Europäische Parlament mit überwiegender Stimmenmehrheit eine Resolution, die den EU-Mitgliedsstaaten empfiehlt, an der Gewährung eines Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine zu arbeiten. Während eines informellen Gipfels der Europäischen Union in Versailles in der Nacht vom 10. auf den 11. März einigten sich die Staats-und Regierungschefs der Mitgliedsländer darauf, dass die Ukraine ein Teil der europäischen Familie ist, doch die Frage bezüglich des Kandidatenstatus müsste zuerst ihrer Meinung nach die Europäische Kommission aufarbeiten. Im April hat die Ukraine(und nach ihrem Beispiel auch Moldau und Georgien) zwei Teile eines Fragebogens der Europäischen Union ausgefüllt und sie nach Brüssel gesandt. Die Europäische Kommission versprach, möglichst schnell eine offizielle Schlussfolgerung in Bezug auf die Bereitschaft der Ukraine vorzubereiten, einen Beitrittskandidatenstatus zu erhalten. Aber es stellte sich heraus, dass sich eine Antwort nicht nur von Amtspersonen in Brüssel abhängt. Wichtige Rolle in dieser Angelegenheit spielen manche einflussreiche Metropolen Europas. 

Vor allem sei an die Länder erinnert, die uns bedingungslos auf dem Wege zur EU unterstützen. Das sind vor allem die Baltikum-Staaten – Litauen, Lettland, Estland und auch Polen. Die Regierungen dieser Länder treten wie unsere Rechtsanwälte auf und setzen sich für die ukrainische Eurointegration nicht weniger aktiv als das Außenministerium der Ukraine ein. 

Stattdessen sind manche Hauptstädte des alten Europa immer noch skeptisch in Bezug auf die Aussichten für die Mitgliedschaft der Ukraine. So schlug Präsident Frankreichs Emmanuel Macron vor, eine alternative Europäische Union zu gründen, die die Zusammenarbeit der EU mit solchen Ländern wie Großbritannien und die Ukraine einschließen sollte. Das französische Staatsoberhaupt wurde sofort dessen beschuldigt, dass er angeblich auf solche Weise vermeiden wollte, der Ukraine einen EU-Beitrittskandidatenstatus zu gewähren. Er selbst versicherte später, dass es nicht so sei, jedoch ist die Idee, eine alternative Union zu gründen, nach ihrer kategorischen Ablehnung in der ukrainischen Gesellschaft von der Tagesordnung verschwunden. Jedenfalls mittlerweile. 

Kühl verhalten sich auch die Niederlande zur Idee der ukrainischen EU-Mitgliedschaft. Während des jüngsten Telefongesprächs mit dem Premierminister Mark Rutte erklärte Präsident der Ukraine Volodymyr Zelenskyy: „Ich habe ihm sehr eindeutig gesagt, dass wenn sie der Ansicht sind, dass wir in der EU keinen Platz hätten, so haben sie dies klipp und klar zu sagen“.  Inwieweit sich in den letzten Tagen die Position europäischer Metropolen bezüglich der EU-Mitgliedschaft der Ukraine verändert hat(und ob sie sich überhaupt verändert hat) ist schwer zu sagen, aber um dieses Ziel zu erreichen, hat man jetzt maximale diplomatische Bemühungen unternommen. Es dauert eine Tournee der Vize-Premierministerin für europäische und euroatlantische Integration der Ukraine Olga Stefanischin durch EU-Länder an. Es wird eine große Arbeit auf dem Parlamentsniveau geleistet. Die ukrainische Seite bemüht sich, europäische Partner zu überzeugen, dass von der Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union auch Europa gewinnt. 

Die „Stimme der Ukraine“ sprach mit mehreren Experten für internationale Angelegenheiten, um zu klären, welche Vorteile die Ukraine im Falle, dass ihr ein EU-Beitrittskandidatenstatus gewährt wird, findet, und worin Interesse der Europäischen Union liegt? 

Der Chef des Rats für Außenpolitik „Ukrainisches Prisma“ Gennadij Maksak erinnerte daran, dass die Europäische Union zwei Politiken bezüglich der Nachbarn im Süden und Osten habe – das seien die Politiken der Erweiterung und der Nachbarschaft. „Bis vor kurzem befanden wir uns im Rahmen der Politik der Nachbarschaft, derer Aufgabe es war, solche Instrumente bereitzustellen, dass die Nachbarn positiv gestimmt sind, mit der EU zusammenzuarbeiten. Das heißt, eine Art „Kissen der Prosperität und Sicherheit“ zu schaffen. Die Politik der Erweiterung hat ganz andere Aufgaben. Sie trägt dazu bei, dass einzelne Länder, die bereits Wunsch und Ambitionen demonstriert und eine gewisse Hausarbeit durchgeführt haben, sich auf den Beitritt zu diesem Klub vorbereiten. Das sind zwei verschiedene Tracks, sie haben verschiedene  finanzielle und politische Unterstützung. Derzeit kämpfen wir dafür, dass im Rahmen der Östlichen Partnerschaft(und das ist ein Teil der Nachbarschaftspolitik) in den Abschlussdokumenten von Gipfeltreffen und anderen eine europäische Perspektive fixiert worden ist. Falls wir aber einen Kandidatenstatus erhalten, braucht man es nicht zu machen. Dies bedeutet, dass wir uns auf den Track gestellt haben, der nach der Umsetzung der Hausaufgabe, die eine Vorbeitrittsstrategie und anderes vorsieht, zur Mitgliedschaft führen wird“, - berichtete Gennadij Maksak.

Deshalb ist das Bestreben, einen EU-Beitrittskandidatenstatus zu erhalten, seiner Meinung nach richtige Bewegung seitens unserer Führung. „Zurzeit gibt es ein Fenster der Möglichkeiten, das durch negative Geschehnisse in der Region provoziert wurde, und zwar – durch eine großangelegte Aggression Russlands gegen die Ukraine – und wir müssen es ausnutzen. Wir haben unseren Fragebogen ausgefüllt. Wir Experten, die sich mit der EU-Problematik befassen, sind der Ansicht, dass die Ukraine dazu bereit ist, diesen Status zu erhalten. Letztlich ist es eine politische Entscheidung, denn später, nach der Erlangung dieses Status werden sich gewisse Abschnitte von Verhandlungen öffnen, und davor wird es noch eine Vorbeitrittsstrategie geben, das heißt einen Fahrplan, der eine Möglichkeit gibt, alle Mängel zu beseitigen. Also wichtig ist jetzt, kalte und negative Einstellungen in der Europäischen Union zu überwinden. Einzelne Länder sagen: hier gibt es eine Schlange – zuerst der West-Balkan und dann – sie. Man muss verstehen, dass jeder seinen Track hat. Zum Zeitpunkt, als die Balkan – Länder begannen, ihre Kandidatenstatus zu erhalten, waren wir einen Kopf höher, wir erfüllten schon viele Bedingungen im Rahmen des Assoziierungsabkommens. Es ist wichtig, zu verstehen, und wenn es jetzt eine Absage mit der Formulierung geben würde: sie sind zur Kandidatschaft nicht bereit, hier haben sie ihre potentielle Kandidatschaft, bedeutet es, dass wir es nicht geschafft haben, politisch diejenigen Staaten zu überzeugen, die zurzeit diese Entscheidung blockieren», – meint der Experte.  

– Es gab aber eine Schlussfolgerung in Versailles, als die EU-Staats-und Regierungschefs zugaben, dass die Ukraine ein EU-Teil ist.

– Ich glaube, dass dies eher eine diplomatische Formulierung war, eine Art verbale Äquilibristik, die zu nichts führt. Diese «Familie» versteht jeder auf seine Wiese. Beispielsweise Macron sagt: «Ja, sie sind eine Familie, aber ich schlage ein neues Format vor, eine neue europäische Gemeinschaft, die breiter, als die EU sein wird, aber zusätzliche Möglichkeiten hat, was die Zusammenarbeit betrifft». Man muss ehrlich sagen, dass es eine Perspektive der Mitgliedschaft gibt, gibt es so was nicht, ist das nur ein Wortspiel. 

– Wird der Kandidatenstatus der Ukraine die Türen zu europäischen Fonds aufmachen? 

– Wichtig ist zu verstehen, das derzeit die Ukraine auf einem mit der EU bilateralen Track viel mehr Mittel bekommt, als dass sie vom einzelnen Instrument der Vorbereitung für die Mitgliedschaft wegen der Situation in der Region bekommen hätte. Natürlich sind die Mittel, die im Rahmen der Vorbereitung für die Mitgliedschaft bereitgestellt werden, höher, als die Mittel, die im Rahmen der Nachbarschaftspolitik bereitgestellt werden, aber wieder einmal die Ukraine bekommt auf dem bilateralen Track noch mehr.

– Welche Vorteile findet die EU davon, dass die Ukraine Kandidat wird?

– Die Vorteile werden darin liegen, was man aufgrund der Nachbarschaftspolitik bemühte zu machen, aber nicht konnte. Welche Stabilität gibt es heute in der Ukraine, Moldau, Belarus? Keine. Das heißt, die Nachbarschaftspolitik ist vollkommen durchgefallen. Zurzeit unterstützen 90 Prozent ukrainischer Bürger die Eurointegration. Dies gewährt die Möglichkeit, eine proeuropäische Nation zu formieren. Um das zu verstehen, muss man nicht einmal Staatspolitiker, sondern Unionsfunktionär sein, der versteht, dass es notwendig ist. Das ergibt sich aus Erklärungen von Präsidentinnen der Europäischen Kommission und des Europaparlaments, Präsident des Europäischen Rats. Werden sie jedoch ihre Länder von einer solchen Notwendigkeit überzeugen – eine Antwort auf diese Frage wird Ende des Monats vorliegen. 

Davon, dass den Nutzen von der Gewährung eines EU-Beitrittskandidatenstatus an die Ukraine sowohl Kiew als auch Brüssel tragen, ist auch die Exekutivdirektorin der öffentlichen Organisation «Europa ohne Barriere» Irina Suschko überzeugt. «Eigentlich die EU selbst wäre am Erhalt dieses Status durch die Ukraine interessiert, denn dies würde den Start für die Einleitung neuer Projekte und Programme geben, in deren Rahmen die Ukraine nicht einfach Mittel ausnutzt, sondern gleichzeitig ein attraktives Investitionsklima schafft. Das heißt, dies sollte nicht einfach Anlegung nächstfälliger Mittel in das Land, das es braucht, sondern gegenseitiges Interesse sein», – betonte Irina Suschko in einem Kommentar der «Stimme der Ukraine».

«Heute einigt sich die Expertengemeinschaft darauf, dass die Ukraine technisch bereits alle Kriterien erfüllt hat, die für den Erhalt des Kandidatenstatus notwendig sind,- behauptet die Expertin. – Es bleibt nur, die EU-Politiker davon zu überzeigen, dass dieser Status für beide Seiten von Vorteil ist. Wir sind genau überzeugt, dass falls die Ukraine eine Absage erhält, so würde dies die Positionen von Euroskeptikern sehr stärken. Dies würde auf die proeuropäischen Kräfte in anderen Staaten schlagen. Die Unschlüssigkeit der Europäischen Union kann dazu verhelfen, die Schlüsselaufgabe des aggressiven Russland zu verwirklichen. Zum Beispiel, Misstrauen gegenüber dem Westen wecken oder überhaupt die Demokratisierung der Region bremsen und sie in der Zone der Unstabilität zu verankern. Deshalb wenn ich von den Vorteilen eines EU-Beitrittskandidatenstatus spreche, so spreche ich eben von den Vorteilen für beide Seiten – für die Ukraine und auch für die Europäische Union».

Unter den wirtschaftlichen Vorteilen nannte Irina Suschko auch Erweiterung der Stabilitätszone und Verbesserung des Investitionsklimas. «Dieser Status wird auch zur grünen Transformation der ukrainischen Wirtschaft beitragen, neue Konkurrenzbedingungen schaffen, die einen Anstoß für die Entwicklung von Märkten der EU selbst geben können», – betont die Expertin. 

Diese Zeilen könnten mit Irina Suschkos Worten zusammengefasst werden, die manche europäische Metropolen daran erinnert, dass die Gewährung eines EU-Beitrittskandidatenstatus an die Ukraine bedeuten werde, dass die europäischen Staats-und Regierungschefs an den Sieg der Ukraine glauben und sie unterstützen.